
Interview mit Forschungsbereichsleiter Dr. Felix Schulte

Der Forschungsbereich, Konflikt & Sicherheit‘ beobachtet und analysiert gewaltsame und nicht-gewaltsame ethnische Konflikte in Europa. Untersucht werden zum einen Konfliktdynamiken und die Frage, warum ethnische Konflikte zu bestimmten Zeitpunkten eskalieren. Ein aktueller Forschungsschwerpunkt ist das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte SPARK-Projekt.
Dieses untersucht Eskalationsphasen in ethnischen und religiösen Konflikten in der Form spontan auftretender Massenproteste und gewaltsamer Ausschreitungen. Ein zentraler Fokus liegt auf der Rolle von Trigger - Ereignissen, also spezifischen Auslösern, die dazu führen, dass latente Spannungen plötzlich in Gewalt umschlagen. Dabei interessiert die ForscherInnen besonders, wie diese Auslöser mit kollektiven Emotionen wie Wut, Angst oder Frustration zusammenwirken und so kollektives Handeln beeinflussen. Aktuell liegt der Fokus der Forschung auf dem Protestverhalten von zwei ethnischen Minderheiten in stark repressiven Umfeldern: den Krimtataren in der Ukraine und den Kurden in der Türkei.
Ein weiterer Fokus der Forschung des Clusters liegt auf der empirisch-vergleichenden Analyse der Bedingungen für Erfolg und Scheitern territorialer Autonomiesysteme. In diesem Rahmen beschäftigt sich ein laufendes Forschungsprojekt mit dem anhaltenden Trend des Rückgangs liberaler Demokratie und dessen Auswirkungen auf Minderheitensituationen. Besonders im Fokus steht hierbei die Rolle ethnischer Polarisierung und deren Auswirkungen auf das Risiko des (Wieder-) Ausbruchs ethnischer Konflikte. Um diese Fragen fundiert zu untersuchen, führt das Team um Dr. Felix Schulte ein Umfrageexperiment in der autonomen Region Gagausien in der Republik Moldau durch und erstellt einen neuen umfassenden Datensatz, der es ermöglicht, diese Faktoren systematisch zu analysieren.
Dr. Felix Schulte ist Senior Researcher und Leiter des Forschungsbereich „Konflikt & Sicherheit“. Felix studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Eichstätt, Linköping und Heidelberg. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Postdoktorand an der Universität Heidelberg und der Universität Mannheim tätig. Felix war Gastforscher am Åland Islands Peace Institute (Finnland) und am Institut für Minderheitenrechte an der EURAC Bozen (Italien). Seine Arbeiten wurden unter anderem bei Routledge, Palgrave MacMillan, West European Politics und dem International Journal on Minority and Group Rights veröffentlicht. Felix ist Mitglied des Editorial Boards des Journals Democratization.
Hallo Felix. Danke, dass du dir Zeit für dieses Interview nimmst. Wie ist es zu dem SPARK Projekt gekommen?
Dr. Felix Schulte (F.S.): Ich finde es faszinierend, wie schnell und unerwartet Konflikte mitunter eskalieren können und welche komplexen Dynamiken dabei entstehen, die oft kaum mehr zu kontrollieren sind. Plötzlich handeln Menschen auf eine Weise, die man nicht vorhersehen konnte. Diese Dynamiken sehen wir insbesondere in ethnischen und religiösen Konflikten, wenn auch nicht ausschließlich. Aus meiner Sicht sind die bisherigen theoretischen Ansätze in der Literatur nur bedingt in der Lage diese spontanen Eskalationen zu erklären. Oft werden diese Eskalationen durch spezifische Ereignisse ausgelöst, die in der Forschung bislang nicht ausreichend beleuchtet werden. Zudem fehlt erstaunlicherweise die Berücksichtigung von Emotionen in bisherigen Studien. Ethnische Konflikte sind eng mit kulturellen Identitäten verknüpft, und sie lassen sich kaum verstehen, ohne die emotionale Dimension zu berücksichtigen. Mit Dr. Christoph Trinn von der Universität Heidelberg habe ich jemanden gefunden, der sich ähnliche Fragen gestellt hat und Lust hatte auf ein solches interdisziplinäres Vorhaben.
Welche Bedeutung hat diese Forschung?
(F.S.): Generell wissen wir noch zu wenig über Eskalationsprozesse in ethnischen und religiösen Konflikten. Die Forschung konzentriert sich traditionell auf ethnische Bürgerkriege oder, seit einigen Jahren vermehrt auf einzelne Konfliktereignisse. Gerade in diesen Kontexten sehen wir jedoch ein häufiges Auf- und Ab mit oftmals schnell auftretenden Veränderungen. Erst wenn wir das besser verstehen, können wir Frühwarnsysteme und Vorhersagemodelle verbessern.
Könntest du noch erzählen, was es mit dem besonderen Namen auf sich hat?
(F.S.): Das Akronym SPARK betont die entscheidende Rolle von Trigger-Ereignissen, die oft die kausalen Auslöser für Eskalationen darstellen. Ohne diese Ereignisse hätte die Eskalation des Konfliktes nicht stattgefunden – zumindest nicht zu diesem spezifischen Zeitpunkt. Unser theoretisches Modell basiert auf Annahmen der Komplexitätstheorie und postuliert, dass die Intensität einer Eskalationsphase – gemessen an der Anzahl der Beteiligten, der Toten, Verletzten und dem Ausmaß des Sachschadens – nicht von der Art oder Größe des auslösenden Ereignisses abhängt. Auch kleine, für Außenstehende unbedeutende und trivial erscheinende Ereignisse können massive Gewaltspiralen auslösen. Auch ein kleiner Funke (engl. Spark) kann einen verheerenden Waldbrand auslösen. Unsere statistischen Analysen, die sich auf die Untersuchung hunderter Eskalationsspiralen und Trigger-Ereignisse stützen, bestätigen diese Annahme. Die Bezeichnung von ethnischen Konflikten als „Pulverfässer“ ist aus dieser Sicht also mehr als eine bloße Metapher.
Könntest du den Begriff “Trigger-Ereignis” für uns noch genauer definieren bzw. ein konkretes Fallbeispiel geben?
(F.S.): Wir sprechen in diesem Zusammenhang von konkreten Ereignissen, nicht etwa von längerfristigen Entwicklungen wie etwa einer politischen oder ökonomischen Krise. Das Spannende ist, dass praktisch jedes Ereignis zu einem Trigger werden kann. Erst die Folgen machen das Ereignis zu einem Trigger-Ereignis. Das macht die empirische Analyse jedoch besonders herausfordernd. Wir denken etwa an den Tod von George Floyd, der massive Proteste auslöste, während viele andere Fälle von rassistischer Polizeigewalt dies nicht taten. In der Regel haben Trigger-Ereignisse etwas Unerwartetes und Schockierendes, was unmittelbare hochemotionale Reaktionen hervorruft und Menschen spontan zu direkten Reaktionen motiviert. So hat etwa die Nachricht des korsischen Separatistenführers Yvann Colonna vor zwei Jahren zu massiven Ausschreitungen auf Korsika geführt. In unseren Daten finden sich jedoch auch deutlich trivialere Trigger-Ereignisse, wie Gerüchte, Beleidigungen oder Unfälle. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist eine eigentlich harmlose Schlägerei vor einem Kasino in Osh (Kirgisistan) im Jahr 2010, die eine Gewaltspirale auslöste, die Hunderte von Menschenleben kostete. Wie bereits erwähnt, sagt die Art oder „Größe“ eines Ereignisses nichts über seine Auswirkungen aus. Ein Paradebeispiel dafür, obwohl es sich um keinen ethnischen Konflikt handelt, ist die Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi im Jahr 2010. Als einfacher Gemüsehändler wurde sein Selbstmord zum unmittelbaren Auslöser nicht nur der tunesischen Revolution, sondern bis hin zum Bürgerkrieg in Syrien.
Könntest du die neuesten empirischen Erkenntnisse für uns zusammenfassen? Wo steht ihr aktuell mit eurer Forschung?
(F.S.): Wir haben nun erste Daten zu Trigger- Ereignissen und Protestintensitäten ausgewertet, aus denen wir bereits bedeutende Erkenntnisse gewinnen konnten. Das ist sehr spannend, weil diese Daten bislang nicht erhoben und ausgewertet wurden. So haben wir auch erstmals das Protestverhalten der Krimtataren im Laufe der Zeit systematisch erfasst. Meine Kollegin Elmira Muratova wird dazu gleich noch mehr sagen. Hier erfolgen bald noch neue Analysen und dann arbeiten wir an den Publikationen. Derzeit liegt unser Fokus auf die Rolle verschiedener „kollektiver“ Emotionen wie Wut, Trauer, aber auch Angst und Stolz. Wir gehen davon aus, dass es nicht die Art und Intensität eines Trigger-Ereignisses ist, die die Eskalation von Protesten bestimmt, sondern vor allem das emotionale Klima innerhalb einer Gruppe im Vorfeld. Man könnte sagen, es ist wie die Menge an trockenem Holz, die der Funke entzünden kann. Die Messung dieser Emotionen ist ziemlich spannend, jedoch auch sehr herausfordernd. Um dies zu erreichen, nutzen wir eine Vielzahl von innovativen Methoden, darunter quantitative Textanalysen, Interviews mit Protest-Teilnehmerinnen, Umfragen sowie Experimente. Umfragen- Experimente führen wie derzeit unter den Krimtataren in der Ukraine sowie in der kurdischen Gemeinschaft in der Türkei durch. Derzeit erarbeiten wir mit den KollegInnen aus Heidelberg Fallstudien von spontanen Ausschreitungen und Massenprotesten in verschiedenen Kontexten. Dabei beleuchten wir das Zusammenspiel von spontan-selbstorganisiertem Handeln, kollektiven Emotionen und den jeweiligen Trigger-Ereignissen. Ein wichtiger Aspekt dieser Arbeit ist der Vergleich europäischer und nicht-europäischer Fälle in Demokratien und repressiven Autokratien, um möglichst umfassende Rückschlüsse ziehen zu können.
Könntest du uns ein konkretes Beispiel zu deinen deine Forschungstätigkeiten im Bereich Autokratisierung und Minderheiten geben?
(F.S.): Die politikwissenschaftliche Forschung zeigt, dass die Autokratisierung und der Rückgang der Qualität liberaler Demokratien vielfältige Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen ethnischen Minderheiten bzw. zwischen Mehrheiten und Minderheiten haben. In Bezug auf autonome Minderheitenregionen beobachten wir unterschiedliche Entwicklungen: In einigen Fällen zeigt sich eine gewisse Resilienz, während in anderen „autokratische Enklaven“ entstanden sind, wie beispielsweise in der Republika Srpska in Bosnien und Herzegovina oder in Gagausien in Moldau. Welcher Zusammenhang besteht zwischen diesen Prozessen und ethnischer Polarisierung? Welche Auswirkungen hat das auf das Konfliktrisiko? Welche institutionellen Arrangements zeigen sich als besonders widerstandsfähig, welche sind besonders anfällig? Diesen Fragen wollen wir uns in der nächsten Zeit verstärkt widmen. Zwei Schritte haben wir hierfür schon unternommen. Zum einen erstellen wir gerade einen Datensatz zur Qualität der liberalen Demokratie in verschiedenen autonomen Regionen, der auf Expertenschätzungen basiert. Das wird uns erlauben, Tendenzen und Muster zu erkennen. Zum anderen untersuchen wir den Einfluss möglicher institutioneller Reformen auf pro-demokratische Einstellungen in diesen Kontexten. Hierzu führen wir ein Experiment in der autonomen Region Gagausien in der Republik Moldau durch. Diese Region steht unter erheblichem russischem Einfluss und erlebt seit einigen Jahren starke Autokratisierungstendenzen, die im Zentralstaat so nicht beobachtet werden können.